Jan Faktor etablierte in den 1980er Jahren ein Zentrum der unabhängigen Literaturszene der DDR. Durch sein schriftstellerisches Schaffen bereicherte er sie, er intervenierte zeitgenössisch aber auch gegen ihre Konventionen. Jan Faktors Vorlass in der Akademie der Künste hilft heute, die unabhängige Literaturszene der DDR, ihre Bindungskräfte wie auch ihre Grenzen besser zu verstehen.
Das Literaturarchiv der Akademie der Künste erwirbt seit den frühen 2000er Jahren gezielt Bestände aus der unabhängigen Literaturszene der DDR. Die wohl bedeutendste Übernahme war im Jahre 2006 ein erster Teil des Vorlasses des Schriftstellers und Verlegers Gerhard Wolf mit wertvollen, jenseits des offiziellen Literaturbetriebs produzierten Künstlerbüchern sowie Hintergrundmaterialien beispielsweise zur einflußreichen, von Wolf betreuten Edition "Außer der Reihe" (1988-1991). Der literarische Vorlass und die künstlerischen Korrespondenzen von Jan Faktor gehören unmittelbar in dieses Wissenszentrum, weshalb Faktor wie auch der Lyriker Bert Papenfuß und andere vergleichsweise noch junge Autoren ihre Archive der Akademie schon zu ihren Lebzeiten zu Verfügung stellten.
Der Tscheche Jan Faktor siedelte 1978 mit seiner Familie in die DDR über. Durch die ihm zunächst fremde Sprache gewann er auf sie einen eigenen Blick, der ihn wiederholt an den künstlerischen und politischen Konventionen der Szene rütteln ließ. So verfasste er 1983 sein "Manifest der Trivialpoesie" in vier Teilen und schrieb 1984 gemeinsam mit Papenfuß und Stefan Döring am Manifest "Zoro in Skorne". Er trat in Wohnungs-, Atelier- und Hinterhoflesungen auf; seine Texte publizierte er im Samisdat. 1989 wurde Faktor Mitglied des Neuen Forums und später auch Mitarbeiter von Die Andere, der ersten Wochenzeitung der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Retrospektiv reflektierte Faktor seit den 1990er Jahren in eigenen Schriften und Interviews mehrfach über den Charakter der unabhängigen Literaturszene in der DDR.
Das Jan-Faktor-Archiv an der Akademie der Künste hilft insbesondere die "Prenzlauer-Berg-Connection" (Adolf Endler) besser zu verstehen, die im Ostberlin der 1980er Jahre eine Literatur entwickelte, die "inoffiziell", "anders" oder "unabhängig" genannt wurde. Ihre Sprache vermischte Elemente des Barock und der Avantgarden des 20. Jahrhunderts mit offiziellen Verlautbarungen des real existierenden Sozialismus. Aufgrund fehlender Auftrittsmöglichkeiten organisierten sich die in der "Connection" miteinander verknüpften Autorengruppen in einem System der gegenseitigen Hilfe und Selbsthilfe privat in Wohnzimmer-, Atelier- oder Hinterhoflesungen. Mit ihren selbst verlegten Zeitschriften etablierten sie eine eigene literarische Öffentlichkeit. Die Autoren der "Prenzlauer-Berg-Connection" orientierten sich an poststrukturalistischen Tendenzen aus Frankreich und wollten eine Literatur schaffen, „die die Stasi nicht versteht“. Diese DDR-Autoren bedienten sich also einer bewusst irrationalen Schreibweise, um eine Opposition zur SED zu bilden und um gegen die staatlichen Restriktionen zu protestieren. In ihren Arbeiten praktizierten sie eine permanente Volte gegen Normen und „guten Geschmack“, etwa durch ein Zerdehnen, Zerreißen, Zerlegen von Sprache oder der Kultivierung des Fehlers im „Dichtergarten des Grauens“ (Jan Faktor). Zu ihnen zählten u. a. Stefan Döring, Egmont Hesse, Jan Faktor, Johannes Jansen, Uwe Kolbe, Andreas Koziol, Leonhard Lorek, Lothar Feix, Detlef Opitz, Frank-Wolf Matthies, Bert Papenfuß-Gorek, Gino Hahnemann, Cornelia Schleime, Peter Brasch, Michael Rom, Ulrich Zieger. Die zeitweilig als Spiritus rectores im Zentrum dieser Szene stehenden Sascha Anderson und Rainer Schedlinski wurden nach der Wende als Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entlarvt, die ihre eigenen Kollegen ausgiebig bespitzelt hatten.
Inhaltsbeschreibung
Die Sammlung beinhaltet vor allem Jan Faktors literarischen Vorlass, Materialien zu mehreren Arbeiten, Werkmanuskripte und mehrere Rezensionen. Seine künstlerischen Korrespondenzen umfassen allein elf Ordner.
Mehrere Kassetten von Dia-Fotographien bildeten die Grundlage für Faktors satirische Vortragsreihe Ende der 1990er Jahre "Mein Leben als Gebrauchsangewiesener Mensch in der DDR". Ein Teil der Sammlung stammt noch aus der Tschechoslowakei. Auf mehreren Tonbandkassetten sind Interviews mit früheren Protagonisten der "Prenzlauer-Berg-Connection" überliefert.
Die Laufzeit der Sammlung ist von Anfang der 1970er Jahre bis 2012. Sie hat 6,4 laufende Meter, ist aber noch unvollständig und teilweise noch nicht erschlossen.
Faktor, Jan. 1989. Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens. Berlin.
AutorIn des Eintrags
Sonnenberg, Uwe
Literaturverzeichnis
Michael Opitz, Michael Hofmann (eds). 2009. Metzler Lexikon DDR-Literatur: Autoren - Institutionen – Debatten, S. 194.
Heinz Ludwig Arnold / Gerhard Wolf (Hg.): Die andere Sprache. Neue DDR‑Literatur der 80er Jahre. München 1990.
Roland Berbig / Birgit Dahlke / Bogaart van den Kämper / Uwe Schoor (Hg.): Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der DDR nach 1990. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2001.
Peter Böthig / Klaus Michael (Hg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit. Leipzig 1993.
Christine Cosentino / Wolfgang Müller: „im widerstand / in mißverstand? Zur Literatur und Kunst des „Prenzlauer Bergs“. New York, Bern, Paris 1995.
Uwe Warnke, Ingeborg Quaas (Hrsg.): Die Addition der Differenzen. Verbrecher-Verlag Berlin, 2009.
Galek, Franziska , interview by Sonnenberg, Uwe, January 09, 2017. COURAGE Registry Oral History Collection