COURAGE
connecting collections

×
Ästhetik der Konformität und Opposition: Literatur im Staatssozialismus

Ästhetik der Konformität und Opposition: Literatur im Staatssozialismus

Ziel dieser Unterrichtseinheit ist es, die Schülerinnen und Schüler an die Opposition und den Widerstand im Bereich der Literatur in der Ära des Staatssozialismus heranzuführen. In den sozialistischen Staaten gab es viele unterschiedliche literarische Szenen und Textformen. Im Rahmen dieser Unterrichtseinheit kann daher lediglich auf einige wenige illustrative Beispiele aus der Poesie eingegangen werden.

Konzepte:

  • Ästhetik und Poetik der Konformität
  • Ästhetik und Poetik der Opposition
  • Poetik
  • dogmatische Ästhetik
  • Propaganda
  • sozialistischer Realismus

Kompetenzen:

Im Kursverlauf sollten die SchülerInnen

Wissen:

  • die Hauptorte der Literaturszenen in der Ära des Sozialismus kennenlernen;
  • sich einen Überblick über den Kontext des Literaturlebens zu dieser Zeit, vor allem im Hinblick auf die Situation im eigenen Land, verschaffen;
  • Kontroll- und Zensurmechanismen im Bereich der Literatur nachvollziehen können;
  • verschiedene Strategien der Autoren und anderer literarischer Akteure in unterschiedlichen Kontexten und Zeiträumen begreifen können;
  • das komplexe Wechselspiel zwischen Konformität und Widerstand in der Literatur verstehen;
  • literarische Propagandaformen und ihre Mechanismen kennenlernen;
  • die Prinzipien des sozialistischen Realismus und zeitgleicher Tendenzen in der Ästhetik verstehen können;
  • sich der dialektischen Verbindung zwischen Text und Kontext bewusst werden;
  • über die Rezeptionsgeschichte der Texte reflektieren können;

Einstellungen:

  • für eine komplexe Analyse der Opposition und Konformität in der Literatur der sozialistischen Ära sensibilisiert werden;
  • einen ästhetischen Zugang zu Literatur und Texten finden;
  • für die Vielseitigkeit der Ästhetik offen sein;
  • bei der Annäherung an Texte durch Reflexion über die eigenen Werte eine objektive Haltung einnehmen;
  • die Autonomie der Kunst (Literatur) angesichts politischer Einschränkungen erkennen können;
  • in der Literatur Beispiele für verschiedene Formen des Widerstands gegen die Auflagen des Regimes finden können;
  • Texte aus dieser Zeit interpretieren können, auch um die eigenen Ansichten und Haltungen sowie den eigenen Kontext besser nachvollziehen zu können;

Fertigkeiten:

  • dazu in der Lage sein, Informationen über Literatur und das literarische Leben im eigenen Land und im eigenen Umfeld zu finden;
  • poetische Kategorien, die für den betreffenden Zeitraum relevant sind, bei der Interpretation literarischer Texte anwenden können;
  • die Merkmale der Propagandaliteratur erkennen und analysieren können;
  • den Kontext der Texte und ihre Rezeption bei der Interpretation berücksichtigen können;
  • Merkmale des sozialistischen Realismus in literarischen Texten (insbesondere in der Poesie) identifizieren können.

Einführung

Im Zeitalter des Staatssozialismus spielte Literatur eine wesentliche Rolle, sowohl in der Verbreitung der kommunistischen Ideologie als auch im kulturellen Widerstand. Dabei ist Literatur im weiteren Sinne zu verstehen: Zur Literatur gehören neben Gedichten, Romanen und Theaterstücken auch Liedtexte, Foren, Autorengemeinschaften, Veranstaltungen, etc. Die literarischen Texte und “Begegnungsräume” dienten im Staatssozialismus dazu, Propaganda, die offizielle Ideologie, Ästhetik (Schönheitsideale) sowie Poetik (Theorien über literarische Formen) auszudrücken und diese zugleich der Ideologie, Ästhetik und Poetik der Opposition gegenüberzustellen.

Wenn wir uns mit der Literatur einer Epoche befassen, so hilft uns das auch ihren geschichtlichen Hintergrund besser zu verstehen. Diese Unterrichtseinheit soll jedoch nicht dazu dienen, das Wissen über die Geschichte des sozialistischen Regimes zu vertiefen, sondern vielmehr ein Verständnis für die literarische Verflechtung von Kontrolle, ideologischem Einfluss, Opposition und Widerstand in dieser Ära aufzubauen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Textästhetik und nicht auf dem Kontext, in dem die Werke entstanden sind und veröffentlicht wurden. Es handelt es sich hierbei also um eine literarische Lektion mit geschichtlichem Exkurs, und nicht um eine Geschichtsstunde mit der Einbeziehung literarischer Textbeispiele. Auch wenn Literatur verschiedene Genres umfasst, konzentrierten wir uns in dieser Unterrichtseinheit auf poetische Texte.

Kontext: Die literarische Welt im Staatssozialismus

Ehe wir uns einige Beispiele zur Ästhetik der sozialistischen Ära ansehen, ist es sinnvoll, einen Blick auf die verschiedenen Ausprägungen der Literatur dieser Zeit zu werfen.

Zu den wichtigsten Stätten literarischer Produktion gehörten Zeitschriften, Schriftstellerverbände, Veranstaltungen sowie Aufsichtsbehörden des Staates und der Partei. Dabei spielten vor allem Verlagshäuser eine entscheidende Rolle, weil sie internationale Werke veröffentlichten und eine Plattform sowohl für die Förderung junger Talente als auch die künstlerische Entfaltung erfahrener Publizisten boten.

Dadurch hatten sie, der ideologischen Kontrollmaßnahmen zum Trotz, einen maßgeblichen Einfluss auf das kollektive Leseverhalten. Neben den offiziellen Verlagen, existierten auch Verlagshäuser, die aus dem Untergrund publizierten, wie z. B. das Polish NOWA.

Zeitschriften waren wichtige Medien für die Veröffentlichung von kurzen Romanen, Gedichten und Essays. Sie boten Raum für Diskussionen und Debatten und schufen Plattformen für verschiedene Arten literarischer Werke und Rezensionen. Einige von ihnen waren eine Zeit lang verboten, weil sie ideologische Grenzen überschritten: so z. B. auch die jugoslawische Literaturzeitschrift Književne novine sowie die Zeitschriften Mozgó Világ und Tiszatáj in Ungarn.

Književne novine (Literarische Zeitung)

Es gab Schriftstellerverbände mit ausgeprägter Konformitätstendenz und solche, in denen oppositionelle und kritische Stimmen laut wurden. Obwohl sich die Verbände anfangs aktiv an der Sowjetisierung der Literatur beteiligten, gelang es ihnen mit der Zeit ein gewisses Maß an innerer Autonomie aufzubauen und sich der Politik in der nachstalinistischen Zeit zu widersetzen (z. B. der Schriftstellerverband Moldawiens oder der Litauische Schriftstellerverband). In einigen Verbänden regte sich im Laufe der 80er Jahre immer mehr Kritik und Widerstand gegenüber dem Regime (z. B. auch im Ungarischen Schriftstellerverein mit seinem jährlichen Schriftstellerlager in Tokaj).

Außerdem boten Veranstaltungen wie Buchvorstellungen, Künstlertreffen und Schriftstellerkongresse Platz für Debatten, literarische Szenen und Trends der literarischen Produktion. In der Unterrichtseinheit über religiöse Opposition wurden zum Beispiel bereits die Polnischen Wochen christlicher Kultur als Begegnungsort vorgestellt, an dem Opposition und Dissens diskutiert wurden. Schriftstellerkongresse schufen ebenfalls Raum für Diskussionen, Konfrontationen sowie auch kulturellen Widerstand. Während des 5. Kongresses des litauischen Schriftstellerverbandes im Jahr 1970 kritisierte die ältere Autorengeneration ihre jüngeren Kollegen, weil sie sich mit ihrem „modernistischen Stil“ – entgegen den Vorgaben des sozialistischen Realismus – nicht auf den Inhalt konzentrierten (siehe unten) und lehnte diese Richtung als „formalistisch“ ab.

Dabei schlossen die verschiedenen Generationen gerade einmal 5 Jahre zuvor auf dem moldawischen Schriftstellerkongress ein Bündnis, in dem sie sich zusammen gegen die Russifizierung der moldawischen Kultur stellten.

In jedem Staat erfolgte die Überwachung literarischer Produktion im institutionellen Rahmen: in Kroatien z. B. durch die Ideologiekommission des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten und in Lettland durch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. In Ungarn war György Aczél, der als Mitglied des Zentralkomitees und als führender Politiker des Kulturdezernats das kulturell-künstlerische Leben in der Kádár-Ära prägte, für die Überwachung zuständig (hier ist eine Veranstaltung über die “Ära Aczél“ abrufbar).

An dieser Stelle sollte darauf verwiesen werden, dass mehrere Verlagshäuser ihren Sitz im westlichen Ausland hatten und von dort aus sogenannte Tamisdat-Publikationen veröffentlichten, die man im Heimatland verboten hätte. Mehrere Schriftsteller wanderten ebenfalls aus und schrieben ihre Werke im Exil (z. B. Milan Kundera, Ivan Blatny oder Danilo Kiš). Einige dieser Autoren wurden nach Sturz des Regimes wiederentdeckt und neu rezipiert.

Konformität

Es ist nicht immer leicht zu definieren, was Ideologiekonformität im literarischen Kontext bedeutete. Einerseits war explizite Kritik am Regime und seiner Ideologie keineswegs erlaubt. Aus diesem Grund blieb systemkritische Literatur in der Regel unveröffentlicht (wie z. B. die Gedichte von Knuts Skujenieks während seiner Inhaftierung), wurde verboten (z. B. die Zeitschrift Tiszatáj) und/oder in Form von Samisdats (wie im Falle von Petko Ogoyskis Gedichten) vertrieben. Auf der anderen Seite waren die Erwartungen der Partei und der Vertreter des kulturellen Lebens hinsichtlich des Inhalts und der Ästhetik nicht immer fest vorgeschrieben. Infolgedessen konnte sich Literatur als eine Form künstlerischer Produktion vor allem nach der stalinistischen Ära einigermaßen unabhängig und frei entfalten. Wie wir im nächsten Abschnitt über sozialistischen Realismus und Widerstand sehen werden, ist die Grenze zwischen Konformität und Opposition manchmal schwer zu ziehen.

In diesem Zusammenhang sei noch darauf verwiesen, dass in den verschiedenen Phasen des Staatssozialismus die Kontrollmaßnahmen in Umfang und Intensität variierten.

Propagandaliteratur

Der Begriff Propaganda wird oft im negativen Sinne verwendet. Er kann als Kommunikationsmittel definiert werden, mittels dem man die Gesellschaft beeinflussen und bestimmte Botschaften oder Ideen auf manipulierende Weise übermitteln wollte. Propagandaliteratur setzt sich aus Gedichten, Dramen, Romanen und anderen literarischen Werken zusammen, die ideologischer und manipulativer Natur sind. Diese Literaturform war in erster Linie zu Beginn des (stalinistischen) Regimes präsent, in dem der Personenkult gipfelte (wie auch im ceausescischen Rumänien), wobei sie auch im Spätsozialismus noch üblich war. Besonders extreme Formen der Propagandaliteratur hatten oft etwas Verherrlichendes an sich: Sie feierten die Erfolge der Partei, der Sowjetunion oder die Allmacht des Führers. In den 1950er Jahren wurden viele Autoren dazu gezwungen, im Namen der Propaganda zu schreiben. Und selbst wenn sie nicht unmittelbar dazu genötigt wurden, hätten sie sich dazu verpflichtet gefühlt. Der ungarische Autor Gyula Illyés zum Beispiel, der 1950 insgeheim ein imposantes Oppositionsgedicht über Tyrannei schrieb, beteiligte sich mit einem Gedicht an einem Band, das zu Ehren des ungarischen Führers an seinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 1952 veröffentlicht wurde. Schriftstellerverbände leisteten in der Ära-Stalin einen entscheidenden Beitrag zur Förderung der Propagandaliteratur (siehe oben).

Propagandaliteratur vermittelt meistens eine einfache, leicht verständliche Botschaft. Sie ist dogmatisch und läuft nach einem vorgegebenen Schema ab. Wegen ihrer Texte können auch Lieder aus kommunistischer Zeit zur Propagandaliteratur gezählt werden. Die Botschaft der Liedtexte wird vom Pathos der Musik unterstrichen. Einige Lieder können heute über das Internet abgerufen werden, und in manchen Ländern haben sie Kultstatus erreicht. Sie haben etwas Komödiantisches an sich und jüngere Generationen singen sie mit Humor, wohingegen sie bei älteren Generationen noch eine gewisse Nostalgie wecken. Ihre Rezeption ist heute völlig anders als in Zeiten des Sozialismus.

Sozialistischer Realismus

Der sozialistische Realismus war der ästhetische Stil, der vom Regime propagiert wurde.

Sich ihm in Form von Samisdats oder Tamisdats zu widersetzen bedeutete auch, sich gegen das autoritäre System zu stellen (vgl. hierzu die Tamizdat-Publikation Was ist der Sozialistische Realismus?, die seine Grundannahmen infrage stellt). Der sozialistische Realismus war jedoch nicht einfach nur eine ideologische und dogmatische Ästhetik, sondern hatte unterschiedliche Ausprägungen und kann nicht nur anhand eines Satzes vorgegebener Kriterien beschrieben werden. Er reichte außerdem über die Grenzen der sozialistischen Länder hinaus und wurde auch von westlichen Autoren übernommen (u. a. von Luis Aragon und bis zu einem gewissen Grad von Pablo Neruda). Der russischer Schriftsteller Maxim Gorki, einer der berühmtesten Vertreter des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion, hielt 1934 während eines Schriftstellerkongresses eine Rede über die Rolle der Literatur im Sozialismus.

Den Entscheidungen des Kongresses zufolge musste die sozialistische Literatur:

  • realistisch sein und den Kapitalismus und die Arbeiterklasse realitätsnah darstellen, insbesondere ihre typischen Vertreter und Alltagsszenen;
  • proletarisch sein und eine Verbindung zum Leben der Arbeiter herstellen;
  • der Ideologie zugewandt sein und mit ihr kapitalistische (falsche) ideologische Konstruktionen aufdecken;
  • gesellschaftlich aktiv/revolutionär sein und den sozialen Wandel fördern;
  • politisch engagiert sein und die Partei in ihren Kampf gegen den Kapitalismus unterstützen.

Hierbei handelte es sich lediglich um elementare Richtlinien, die je nach sozio-politischem Kontext unterschiedlich realisiert wurden. Wie zuvor bereits angeführt, war die Kontrolle in stalinistischer Zeit strenger und direkte Propaganda stand an der Tagesordnung.

Dennoch wurden in diesem Zeitraum diverse Werke publiziert, die sich nicht an die ästhetischen Vorgaben hielten. Je nach Zeit und Ort gab es auch andere Faktoren, die den literarischen Stil beeinflussten: In einigen sowjetischen Staaten wurde Sowjetisierung z. B. mit Russifizierung gleichgesetzt. Das Regime nahm unterschiedliche Haltungen gegenüber nationalen Tendenzen in verschiedenen Kontexten ein. Manchmal begrüßte es den Internationalismus. Unter anderen Umständen wurde nationale Literatur bevorzugt und entsprechend gefördert.

Das Regime tolerierte einige Autoren, obwohl sie sich nicht an das sozialistisch-realistische Ideal hielten. Andere, die sich zwar an der Norm orientierten, gleichzeitig aber auch am System Kritik übten, lehnte es ab.

Eine weitere bedeutende Persönlichkeit war der Kroate Ivan Aralica, der sich trotz seiner Mitgliedschaft in der Partei und seiner mehrjährigen politischen Präsenz immer kritisch gegenüber dem jugoslawischen Regime äußerte. Dabei verurteilte er das Regime, weil es den gewöhnlichen Menschen ein dogmatisches Bewusstsein aufzwingen sowie auch alte Wertvorstellungen eliminieren wollte, ohne sie durch neue zu ersetzen. Nachdem er später vom Amt suspendiert wurde, befasste er sich mit der Problematik der Beziehung zwischen den Behörden und dem Einzelnen.

In Ungarn erfreute sich der Autor Gyula Illyés wegen seiner linken Gesinnung sowie auch seiner Mitgliedschaft bei der Schriftstellervereinigung Aus dem Volk großer Beliebtheit. Der ungarischer Dichter Ferenc Juhász hatte einen ähnlichen realistischen und folkloristischen Hintergrund und wurde ebenfalls zu einer großen Persönlichkeit der ungarischen Literatur. Obwohl er ab und an Unterstützung und Anerkennung erhielt, wurde er in der sozialistischen Zeit des Öfteren auch angegriffen. Diese Angriffe sind vor allem darauf zurückzuführen, dass sich seine Ausdrucksweise in den Fünfzigerjahren radikal veränderte und er einen neuen mythischen Stil in die ungarische Literatur einführte.

Als interessantes Beispiel kann an dieser Stelle noch Adam Ważyks Gedicht für Erwachsene genannt werden, das 1965 in der offiziellen Zeitschrift des Verbandes polnischer Autoren erschien und die Grenzen zwischen Opposition und Konformität verschwimmen ließ. Es handelt sich hierbei um ein allgemein bekanntes sozialistisch-realistisches Gedicht, das am stalinistischen Regime Kritik übte und für gewöhnlich als klares Dissidentengedicht rezipiert wurde (wofür es die Partei verurteilte).

Lies dir Adam Ważyks Gedicht für Erwachsene und beantworten Sie folgende Fragen:

  • Welches sind die sozialistisch-realistischen Merkmale des Gedichts? Vergleiche die oben genannten Kriterien und den Text.
  • Wie wird Kritik im Text ausgedrückt und besonders hervorgehoben?

Poetik des Widerstands und der Opposition

Das o. g. Gedicht von Adam Ważyk war ein exemplarisches Beispiel für die Poetik der Opposition. Auch wenn es im offiziellen sozialistisch-realistischen Genre gehalten und hinsichtlich des Inhaltes auch im Einklang mit der marxistischen Ideologie war, kritisierte es das bestehende politische System. Es stellte ein tragendes literarisches Beispiel dar, das sich ganz im Rahmen der marxistischen Tradition bewegte. Trotzdem war auch die Poetik des Widerstands nicht einheitlich. In diesem Abschnitt werden weitere ähnliche Beispiele vorgestellt. Erwähnenswert ist ferner, dass der literarische Widerstand nicht nur eine Frage der Poetik war. Er wirkte sich auf den Alltag, die Karriere und das Wohl der Menschen aus und kostete im Extremfall das Leben einiger Autoren (so auch im Falle von Grzegorz Przemyk, der 1983 von der polnischen Polizei ermordet wurde). Ziel dieser Unterrichtseinheit ist nach wie vor, Texte unter Berücksichtigung des Kontextes und der historischen Gegebenheiten zu interpretieren, und nicht historische Ereignisse mithilfe von Texten zu analysieren. Daher werden im letzten Abschnitt einige ästhetische Formen der Oppositionsliteratur vorgestellt und zwei konkrete Texte zur Interpretation angeboten.

In einigen Texten wurde unmissverständlich am System Kritik geübt, während andere dazu dienten systemkritischen Helden zu gedenken oder diese zu feiern (z. B. den ungarischen Premier Imre Nagy, der während der 1956er Revolution zum Tode verurteilt wurde). Der ungarische Dichter Gáspár Nagy, eine bedeutende Persönlichkeit der literarischen Opposition, schrieb ein Gedicht gegen die Einschränkung der Pressefreiheit sowie auch ein weiteres Gedicht, das zur Wiederbelebung der Figur Imre Nagy aufrief. Beide Gedichte sind der Zensur zum Opfer gefallen.

Einige Texte verurteilen die Taten während der Zwangsherrschaft: u. a. das Buch Gherla des Rumänen Paul Goma, der über seine Gefangenschaft schreibt, oder Virgil Ieruncas Buch Pitești, in dem anhand von Erzählungen ehemaliger Gefangener die Folter als Mittel der „Umerziehung“ dargestellt wird. Diese Werke wurden in nicht-sozialistischen Staaten publiziert.

Andere Texte, wie z. B. Ana Bladianas Kindergedicht, stießen an die Grenzen der Zensur. Bladianas Gedicht handelt von ihrem eigenen Kater mit dem Namen Arpagic, „der als Berühmtheit gefeiert wird. Wo er auch hingeht, wird er mit Brot und Salz und großem Getöse empfangen, während alle um ihn herum nach seiner Pfeife tanzen.” Diese Szenen erinnern an die Auftritte des rumänischen Diktators Ceauşescu bei seinen landesweiten Amtsbesuchen.

Ana Bladiana

Einige Gedichte sind durch die Maschen der Zensur geschlüpft und wurden publiziert, weil die Zensoren ihre oppositionelle Botschaft nicht verstanden. Genau das geschah auch mit Gerhard Ortinaus Gedicht Die Moritat von den 10 Wortarten der traditionellen Grammatik, das in deutscher Sprache erschien. Die Veröffentlichung des Gedichts erfolgte aufgrund einer gewissen Liberalisierung und relativen Unabhängigkeit der rumänischen Kulturinstitutionen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren. Das Gedicht beschreibt die Diktatur mithilfe von Metaphern, Wortspielen und absurden Aussagen wie „ein Pronomen wurde verhaftet“. Die Nonkonformität wird außerdem durch eine fehlerhafte Orthografie ausgedrückt, indem gegen die Regel für Großschreibung von Nomen verstoßen wird.

Andere Texte übten auch nur indirekt Kritik am Regime. Sie nutzten raffinierte Allegorien, Metaphern und figurative Ausdrücke, die regimekritische Botschaften enthielten: wie z. B die Texte am Ende dieses Abschnittes oder Petko Ogayskis Samisdat-Publikationen, in denen sich Kritik hinter allegorischen Volksmärchen, Witzen, Gedichten und Aphorismen verbirgt. In anderen Fällen des indirekten Widerstandes wählte man die Inhalte bewusst so, dass sie von den Richtlinen der Partei abwichen (nationale Werte und Aspekte gegen Internationalisierung; Hervorhebung persönlicher und individueller Freiheit, etc.).

Manchmal ergibt sich die Erklärung für den Widerstand aus dem Entstehungskontext. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Knuts Skujenieks Werk während seiner Gefangenschaft im Gulag. Skujeniek beschrieb es wie folgt: Das war keine Gulag-Poesie, sondern Poesie, die im Gulag entstanden ist. Während der Inhaftierung kann das Literaturschaffen selbst als eine Form des Widerstands und der Opposition betrachtet werden.

Manuskript eines Gedichtbuches: Samen im Schnee, geschrieben von Knuts Skujenieks in Haft.

Eine andere Form des literarischen Widerstands war die Übersetzung ausländischer Werke, die im Gegensatz zur propagierten Norm unterschiedliche Stilrichtungen repräsentierten und die inländische Literatur mit neuen Inhalten bereicherten. Als interessantes Beispiel kann hier der ehemalige Staatspräsident Árpád Göncz genannt werden, der neben diversen oppositionellen Aktivitäten viele Autoren und Texte übersetzte, einschließlich Tolkiens Der Herr der Ringe.

Im Staatssozialismus erhob sich schließlich auch ein klarer ästhetischer Widerstand. Mit ihm wurde Kritik am sozialistischen Realismus geübt und eine andere Form der Ästhetik bzw. Poesie angepriesen: so auch in Andrei Siniavskiis Artikel, der die Vorstellung ablehnte, dass Literatur nicht nur an gesellschaftlichen Aktivitäten teilhaben, sondern auch danach streben sollte, die Realität zu definieren und umzugestalten. Eine ähnliche Widerstandsform findet sich auch im Manifest des sozialistischen Surrealismus. Das Manifest verband Elemente der sozialistischen Ästhetik und des gesellschaftlichen Wandels mit irrationaler, heiterer Spontanität. Die Zeitschrift brulion, die im Untergrund produziert wurde, verfolgte gar einen dritten Ansatz: Mit der Berufung auf die Postmoderne wurde sowohl das sozialistische Regime als auch die dissidente Subkultur und der Humanismus der Moderne in Frage gestellt (mithilfe von Fragmenten, Textspielen, paradoxen und unzuverlässigen Erzählern, auktorialer Selbstreferenz und durch die Ablehnung offensichtlicher Bedeutungen).

 

Bitte lies die folgenden Gedichte im Anhang:

Edvard Kocbek: Mikrofon in der Wand

Knuts Skujenieks: An den Löwenzahn, der im November blühte

Ihnen liegen unterschiedliche Widerstandsformen zugrunde. Versuchen Sie, diese zu identifizieren und zu interpretieren.

Einige Informationen und Fragen zur Interpretation:

 

Edvard Kocbek: Mikrofon in der Wand

Edvard Kocbek war ein christlicher Sozialist, der sich Titos oppositioneller Partisanenbewegung anschloss. 1952 fiel er wegen seiner Sammlung Angst und Mut, die Erzählungen über moralische Konflikte der Partisanenbewegung enthielt (etwas das zu Lebzeiten Titos tabuisiert war), politisch in Ungnade. In den folgenden Jahrzehnten fiel er außerdem der Zensur und Überwachung zum Opfer. Seine Situation wird im Gedicht Mikrofon in der Wand bildhaft dargestellt.

  1. Achte vor allem auf die Versinnbildlichung der Stille und die (laute) Stimme im Gedicht
  2. Hattest du jemals eine ähnliche Erfahrung (oder andere Personen über ein ähnliches Erlebnis berichten gehört), in der du dazu gezwungen warst zu schweigen oder mit dem Stillschweigen ein Zeichen des Protests zu setzten? Stattdessen hättest du am liebsten gesagt: “… die Zeit ist reif,/ und Ich verschmähe dich, verfluche dich,/ Betrüger, Giftmörder…” und „Ich bin, der ich bin….”
  3. Wie unterscheidet sich diese Erfahrung von dem im Gedicht dargestellten Erlebnis? Achte im Gedicht auch auf den historischen Kontext.
  4. Auf welche Weise wird in diesem Gedicht Rache geübt? Inwiefern kann ein Gedicht als Mittel der Vergeltung dienen (denke dabei auch an die Nachhaltigkeit und Neuinterpretation poetischer Texte)?

Knuts Skujenieks: An den Löwenzahn, der im November blühte

Wie oben erwähnt, schrieb Knuts Skujenieks während seiner Gefangenschaft im Gulag zwischen 1963–1969 Gedichte. Es handelt sich hierbei um eine ganz andere Form oppositioneller Literatur. Anders als in den beiden Vorherigen wird in diesem Gedicht nicht direkt Kritik geübt. „Nachdem der anfängliche Schock über die Gefangenschaft überwunden war, wandelte sich der Protest nach und nach in ein Ringen mit sich selbst“, so der Dichter (zitiert aus der Datenbank).

  1. Wie wird mithilfe der Metapher vom blühenden Löwenzahn der innere Kampf dargestellt?
  2. Was bedeutet Zuhause im Kontext der Gefangenschaft? Welche Form persönlichen Widerstandes wird damit verbildlicht? Kannst du einen Bezug zu Ihrem eigenen Widerstandserlebnis herstellen?
  3. Welche oppositionelle Wirkung hätte das Gedicht, wenn es in den 70er Jahren in Litauen veröffentlicht worden wäre? Wie würde sich diese von dem Widerstand unterscheiden, den der Dichter im Gedicht ausgedrückt hat?

Aufgaben:

  • Schreibe (alleine oder in einer Gruppe) eine Parodie über die Propagandadichtung.
  • Finde in der Datenbank Autoren, die Ihnen bereits im Literaturunterricht begegnet sind, und überprüfe, in welchem Kontext sie genannt wurden. In welchem Verhältnis standen sie zum Regime? Bereite eine schriftliche oder mündliche Zusammenfassung vor.
  • Gruppenprojekt: Recherchiere sowohl in der Datenbank als auch in Ihrem näheren Umfeld nach Zeitschriften, Verbänden und Organisationen aus dieser Zeit. Stelle dabei Texte zusammen und bereite eine kleine Präsentation vor, in der du versuchst, die Atmosphäre dieser Zeit zu vermitteln. Schreibe oppositionelle Gedichte oder Romane (alleine oder in der Gruppe). Suche sich hierzu ein Thema aus (es kann auch etwas aktuelles sein), das du kritisieren möchten. Setze damit ein Zeichen des Widerstands und der Opposition. Diskutiere anschließend mit den anderen, wie es sich von der oppositionellen Literatur unterscheidet, mit der du dich beschäftigt hast. Finden aktuelle Beispiele „oppositioneller Literatur“, und gehe genauso vor. Versuche, die wesentlichen Merkmale der Oppositionsliteratur der sozialistischen Ära zu ermitteln.

Anhang: Texte

Adam Ważyk: A Poem for Adults

14.

They shouted at the ritualists,

they instructed,

enlightened, and

shamed the ritualists.

They sought the aid of literature,

that five-year-old youngster,

which should be educated

and which should educate.

Is a ritualist an enemy?

A ritualist is not an enemy,

a ritualist must be instructed,

he must be enlightened,

he must be shamed,

he must be convinced.

We must educate.

They have changed people into preachers.

I have heard a wise lecture:

“Without properly distributed economic incentives,

we’ll not make technical progress.”

These are the words of a Marxist.

This is the knowledge of real laws,

the end of utopia.

There will be no novels about ritualists,

but there will be novels about the troubles of inventors,

about anxieties which move all of us.

This is my naked poem

before it matures

into troubles, colors, and odors of the earth.

15.

There are people tired of work,

there are people from Nowa Huta

who have never been in a theater,

there are Polish apples unobtainable by Polish children,

there are children scorned by criminal doctors,

there are boys forced to lie,

there are girls forced to lie,

there are old wives thrown out of homes by their husbands,

there are exhausted people, suffering from angina pectoris,

there are people who are blackened and spat at,

there are people who are robbed in the streets

by thugs for whom legal definitions are sought,

there are people waiting for papers,

there are people waiting for justice,

there are people who have been waiting for a long time.

On this earth we appeal on behalf of people

who are exhausted from work,

we appeal for locks that fit the door,

for rooms with windows,

for walls which do not rot,

for contempt for papers,

for a holy human time,

for a safe home,

for a simple distinction between words and deeds.

We appeal for this on the earth,

for which we did not gamble with dice,

for which a million people died in battles,

we appeal for bright truth and the corn of freedom,

for a flaming reason,

for a flaming reason,

we appeal daily,

we appeal through our Party.

[Source: http://konicki.com/blog2/2009/06/04/june-4-a-poem-for-adults-by-adam-wazyk/]

 

Edvard Kocbek:

Microphone in the Wall

We are finally alone

you and I,

but (don’t even think

of taking it easy or resting

for your work is just now starting.

You will listen to my silence

which is loquacious

and draws you to the depth of truth.

Listen carefully now,

you beast with no eyes or tongue,

monster with ears only.

My spirit talks without voice,

shouts and screams inaudibly

with joy to have you here,

you Great Suspicion,

hungering for me to reveal myself,

My silence is opening books

and dangerous manuscripts,

lexicons and prophets,

ancient truths and laws,

stories of loyalty and torture.

There is no way you can rest,

you have to swallow this, gulp it down

though you arc already choking

and your car is exhausted.

You are unable to interrupt me

or say anything in return;

my time has arrived

and I insult you, curse you,

you impostor, poisoner,

desecrator, slave, satan,

machine, death, death.

You swallow your shame

and are condemned to listen

not to speak,

because you are a monster

with only ears

and a bellyful of treason;

no tongue or truth,

you are helpless, can call me neither weakling

nor powerful,

cannot utter words like „grace“ or „despair,“

shout to me to stop

though you are burning with slavish rage.

I greet you, crippled creature,

am glad you are here

immured day and night,

you cursed extension of the Great Suspicion,

the diabolical belly of inhuman force

which is so feeble that it shudders day and night.

Now you evoke my power

my unified an undivided power,

I cannot plant someone else

in my place

I am who I am —

restlessness and searching,

sincerity and pain,

faith, hope, love,

your magnificent counter-suspicion —

you never can divide me,

make me your double,

catch me

lying or calculating.

You’ll never be the executioner of my conscience,

you don’t have a choice

bill to swallow my joy

or, at times, my sadness.

You, my enemy,

my infertile neighbor

so different and inhuman

unable to break loose

to become insane or to commit suicide,

I can tell

I wore you out,

your tail is between your legs

but this is only an outline.

of my revenge:

my true revenge

is a poem.

You will never know me,

your ears have no light,

will be hushed by the passage of time

while I am a tongue-flame

fire

that will never cease to bum

and scorch.

Translation: 1977, Sonja Kravanja

From: Embers in the House of Night

[Source: https://www.poetryinternationalweb.net/pi/site/poem/item/5160/auto/Mikrofon-v-zidu]

 

Knuts Skujenieks:

To a Dandelion Blooming in November

If you know you must bloom

Don’t ask if the time has come

Don’t ask if the time has gone

If you know you must bloom

 

Heed the voice coursing in you

When sap disturbs your roots

When your greenness torments you

Heed the voice coursing in you

 

Lift up your yellow crown

Muddle plans and calendars

Muddle rules, muddle minds

Lift up your yellow crown

 

With you, we feel we are home

You bloomed unasked

You bloom unasking

With you, we feel we are home

[Source: Knuts Skujenieks: Seed in Snow. Lannan BOA Editions, 2016, translated by Bitite Vinklers]