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Alltagshelden des Sozialismus

Alltagshelden des Sozialismus

Ab den frühen sechziger Jahren lockerten die Führer sozialistischer Gesellschaften interne Richtlinien und ersetzten die strikte Diktatur durch mildere Taktiken. János Kádár, erster Sekretär der ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, äußerte auf einem Parteitag am 20. November 1962 den berühmten Satz: „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns.” In gewisser Weise prägte diese „Regel” alle anderen Länder der Region – mit Ausnahme von Rumänien, das zeitweise aufgrund verschiedener Ereignisse (z. B. 1956 und 1968 und der Ausnahmezustand in Polen, Tschechoslowakei 1968) sogar noch strikter wurde.

Ziele:

  • Wissen vertiefen
  • Informationen sammeln
  • grundlegende Fakten lernen

Schlüsselbegriffe:

  • Zensur
  • Schmuggelkultur
  • LGBT-Gemeinschaften

Kompetenzen:

  • eine umfassende Analyse der Ereignisse zu geben
  • in der Lage zu sein, die Reaktionen des politischen Systems und der Menschen auf Grundlage gegebener Informationen zu bewerten
  • in der Lage zu sein, kausale Beziehungen in Problemen zu identifizieren

Während des gesamten Unterrichts und der zusätzlichen Aktivitäten sollten die SchülerInnenInnen in der Lage sein:

  • Handlungsmöglichkeiten kennenzulernen
  • über das Verhältnis zwischen Anpassungsbereitschaft und Widerstand zu lernen
  • verschiedene Arten des Widerstands kennenzulernen
  • Handlungsmöglichkeiten im Sozialismus zu erkennen
  • verschiedene Formen des Widerstands zu bewerten

Fähigkeiten:

  • in der Lage zu sein, Informationen innerhalb des Themas Alltagshelden zu finden
  • das Wissen über Widerstand im Alltag zu vertiefen
  • über Schwarzmarkt, geheime Subkulturen usw. zu lernen

by Barbara Hegedüs

Handlungsmöglichkeiten im Sozialismus

Die Bürger lernten im Allgemeinen entweder, innerhalb des Systems zu leben, oder sie waren mit ihm aufgewachsen. Sie erlernten Lebensstrategien, die ihnen halfen, innerhalb der gegebenen Einschränkungen zu überleben. Anstatt in der Öffentlichkeit aktiv zu sein, zogen sich die Menschen in die Privatsphäre zurück und akzeptierten die Freiräume, die das System bot. Um ihren Bedürfnissen gerecht werden zu können, gaben sie gewisse Freiheitsrechte auf, akzeptierten die Regel des Schweigens und diskutierten über Politik nur hinter verschlossenen Türen. In anderen Fällen vermieden sie es völlig, offen zu sprechen, gemäß einer anderen Redewendung der Ära: „Die Wände haben Ohren.”

Es gab jedoch kritische Denker, die die Regeln und die Realität der Behörden ablehnten und diese Ablehnung in ihrem Alltag oder in eigenen Gemeinschaften zum Ausdruck brachten. Häufig bedeutete dies nicht mehr, als unabhängig zu leben und zu denken, von den offiziellen Ideologien abzuweichen oder sich an nationale und sexuelle Identitäten zu halten, die von der sozialistischen Moral und Weltanschauung verurteilt worden waren. Manchmal ging dies weiter, und die Menschen riskierten ihre persönliche Freiheit oder sogar ihr Leben, um – beispielsweise – religiöse oder kulturelle Gegenstände in den Westen oder in ihre eigenen Länder zu schmuggeln. Alltagsheld ist daher eine weit gefasste Kategorie – diese Lektion wird einige Beispiele für alltäglichen Widerstand aus der Zeit des Sozialismus geben, ohne dabei umfassend sein zu wollen.

Schmuggelkultur

Nicolae Ceausescu, der Präsident Rumäniens (das Genie der Karpaten, wie er sich gerne selbst nannte), stabilisierte seine Monopolstellung als Parteichef und erklärte die vollständige Rückzahlung der rumänischen Staatsschulden zum vorrangigen wirtschaftlichen Ziel. Deswegen stand das Land kurz vor dem vollständigen Bankrott, und das Leben seiner Bürger wurde unerträglich. Während die Atmosphäre der sozialistischen Gesellschaften in den 80er Jahren von allgemeiner Mäßigung geprägt war, verblieb Rumänien in völliger politischer und kultureller Isolation – Menschen hungerten und froren, und über die rumänische Geheimpolizei, bekannt als Securitate, waren schreckliche Gerüchte im Umlauf. Die Programme der beiden Fernsehkanäle wurden ab 1985 ständig zurückgefahren und schließlich auf die Ausstrahlung von zwei Stunden Propagandamaterial täglich beschränkt.

In diesem erstickenden politischen Klima wurde ein illegales Schmuggelnetzwerk aufgebaut. Dieses Programm wurde von Toader Zamfír geleitet, der das ganze Land mit kopierten Videokassetten versorgte; die Leute drängten sich in Mietshauswohnungen, um beliebte amerikanische Komödien, Action- und Abenteuerfilme zu sehen. Dieses heimliche Heimkino bedeutete für viele Menschen Freiheit, und das Ansehen dieser Filme galt als Widerstandshandlung an sich, weil die Menschen mit möglichen Razzien der Securitate rechnen mussten. Irina Margareta Nistor, die etwa 3000 Filme übersetzte und synchronisierte, wurde zu einer beliebten Heldin, obwohl bis 1989 niemand wusste, wie sie aussah. In ihrer Privatsammlung zu Hause befinden sich mehrere Notizbücher mit den Titeln von Filmen, die sie übersetzt und synchronisiert hat, sowie etwa 40 VHS-Kassetten. Heute ist Nistor eine der beliebtesten Filmkritikerinnen Rumäniens.

In der Tschechoslowakei wurde verbotene Literatur (religiöse Bücher, Dissidentenausgaben) von Freiwilligen mit dem Auto oder zu Fuß über die Berge in den Westen geschmuggelt. Die Grenzpolizei hielt sie häufig an und drohte ihnen Schulverweis oder Entlassung an, wenn sie sich weigerten, die Quellen ihrer geschmuggelten Waren preiszugeben. Am 12. Dezember 1983 versuchten drei junge Leute, in einem schweren Schneesturm religiöse Bücher, Bilder und Kassetten durch die Berge zu schmuggeln, wurden jedoch von der polnischen Grenzpolizei gestellt. Da sie sich weigerten, irgendetwas zu verraten, wurden sie verhört, geschlagen und in Einzelzellen gesperrt. Sie wurden nur aufgrund eines internationalen Aufschreis freigelassen – Ronald Reagan und Johannes Paul II intervenierten zu ihren Gunsten. Die Geschichte dieser jungen Menschen wird in der Dokumentation Spuren im Schnee (Slavomír Zrebný, 2015) erzählt.

In der Sowjetunion war es während der strengsten Unterdrückung unter Stalin verboten, Jazz oder Rock’n’Roll zu hören. Dieses Verbot wurde auf raffinierte Weise umgangen – verbotene Musik wurde auf Röntgenplatten, die man aus Krankenhäusern bekam, kopiert, und so wurden geheime Musikaufnahmen hergestellt. Die Krankenhäuser verteilten die brennbaren Röntgenplatten nahezu kostenlos, woraufhin Fachleute mit einer speziellen Aufnahmemethode daraus Schallplatten produzierten. Sie behielten diese Platten entweder für sich selbst oder verkauften sie illegal – zum Beispiel für eine Flasche Wodka. Dieses Netz wurde natürlich überwacht – viele Hersteller und Vertreiber wurden festgenommen und jahrelang eingesperrt. Das Thema wird in der Dokumentation Roentgenizdat (Stephen Coates, Paul Heartfield, 2015) dargestellt.

Nationale und subkulturelle Bewegungen

Die ungarische traditionelle Volkstanzbewegung begann 1972 und war entweder eine tolerierte oder verbotene Form der Unterhaltung und eine einzigartige ungarische Schöpfung im sozialistischen Ungarn. Die traditionelle Tanzhausbewegung begründete eine neue Subkultur, die zusammen mit Beat-Musik, Filmclubs und anderen alternativen Unterhaltungsformen zu einem typischen Forum des kulturellen Widerstands wurde. Die Bewegung wurde seitens der Behörden von Anfang an als nationalistisch verurteilt, obwohl sie von den Behörden (teilweise) unterstützt wurde. Die Behörden betrachteten die Tanzhausbewegung als ein besonderes Beobachtungsgebiet, mit wiederholten Razzien und Sanktionen. Mitglieder der Bewegung, wie zum Beispiel die Sängerin Márta Sebestyén, erhielten keine Reiseerlaubnis ins Ausland, und bei verschiedenen Veranstaltungen waren immer Bedienstete der Geheimpolizei anwesend; darüber hinaus wurden Musiker und Tänzer vom Geheimdienst ins Visier genommen, um rekrutiert zu werden.

Die estnische Studenten-Baubrigade (ESBB), die billige Arbeitskräfte bereitstellte, bestand aus estnischen Jugendlichen und wurde 1966 in der Sowjetunion gegründet. Obwohl Patriotismus und Motivation zu politischer Verantwortung zu ihren Zielen gehörten, wurde die ESBB schnell zu einer Basis für freies Denken und Verhalten, die bestrebt war, ihre Unabhängigkeit vom Komsomol zu bewahren. Mitglieder der Brigade versuchten, direkten Widerstand zu vermeiden, und genossen gleichzeitig relative Freiheit unter der Diktatur – sie organisierten häufig Vorstellungen außerhalb der Arbeitszeit (ihre Vorstellung, Eesti Pidu, estnische Partei, ist in der Dokumentation erhalten geblieben), machten Witze auf Kosten der Behörden, schrieben Lieder und ließen alte, verbotene Studententraditionen wieder aufleben. Dies war möglich, weil ihre Führungspersonen aus den eigenen Reihen kamen und nicht von außen. Die Organisation war in der ersten Hälfte der achtziger Jahre am bekanntesten, während ihre Popularität in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts abnahm und sie 1993 offiziell und endgültig aufgelöst wurde.

LGBT wurde in der Gesellschaft als öffentliches Thema und heißes Diskussionsthema betrachtet und seine Akzeptanz war in sozialistischen Gesellschaften unterschiedlich. Obwohl Homosexualität in Polen nicht unter das Strafgesetz fiel, kam es zwischen 1985 und 1987 zur sogenannten Aktion „Zirkon”, in deren Verlauf die kommunistische Geheimpolizei eine Reihe von Festnahmen und Ermittlungen vornahm. Letztere wurden zur Grundlage für die Einrichtung einer Datenbank über Schwule und ihr Netzwerk. Etwa 11.000 Menschen wurden als Ergebnis dieser Aktion eingetragen. In den meisten Staaten – wie Ungarn, der DDR oder der Tschechoslowakei – wurde Homosexualität in den 1960er Jahren entkriminalisiert (in Rumänien erst 1996). Trotz der Legalisierung wurde Homosexualität immer noch als inakzeptable Abweichung angesehen, und die Staatssicherheit hielt die von Schwulen häufig besuchte Orte regelmäßig unter Beobachtung, wobei sie Agenten einschleusten. In Ungarn gab es beispielsweise eine Sonderabteilung bei der Staatssicherheit, um schwule Menschen zu verfolgen. LGBT-Menschen waren gezwungen, ein dauerhaftes Doppelleben unter ständiger Geheimhaltung und Selbstverleugnung zu führen. Selbst der Besuch eines Schwulenclubs war ein Akt der Furchtlosigkeit. Der Dokumentarfilm  Hot Men, Cold Dictatorships (2015) der Regisseurin Mária Takács ist ein wichtiger Film zu diesem Thema. Der erste offen schwule Aktivist war Lajos Romsauer, Gründer der Homérosz-Vereinigung.

Die Position und Akzeptanz der türkischen Minderheit in Bulgarien hatten sich mit der kommunistischen Gesellschaftsordnung geändert. Bis Mitte der fünfziger Jahre hatte der Staat das Recht auf muttersprachlichen Unterricht garantiert, es gab türkischsprachige Zeitschriften, und das Universitätsstudium türkischer Studenten wurde durch positive Diskriminierung unterstützt. Später jedoch wurden die Methoden der Ideologie wesentlich drastischer. Die Führung zielte darauf ab, alle Arten von nationalen Bewegungen zu unterdrücken, und startete einen komplexen Angriff auf die Kirchen. Nach mehreren Umsiedlungen, Auswanderungswellen und Einschränkungen des Sprachgebrauchs startete der Staat eine offene Kampagne gegen die ethnische türkische Minderheit in Bulgarien. Aufgrund der aggressiven Assimilationspolitik wurden religiöse Praktiken und Kleidung verboten, die Presse eingestellt, Bücher und der Gebrauch der Muttersprache an öffentlichen Orten untersagt. Die türkische Bevölkerung wurde gezwungen, bulgarische Namen anzunehmen, manchmal unter Anwendung von Gewalt. Dieses Vorgehen führte zu massiven Protesten und Auseinandersetzungen zwischen den Behörden und der türkischen ethnischen Minderheit. Süleyman Kazımov Saadettinov, der als Maschineningenieur arbeitete, lehnte die gewaltsame Namensänderungskampagne ab und wurde deshalb verhaftet und in ein Zwangsarbeitslager in Belene gebracht. Nach einem Jahr wurde er auf Bewährung entlassen und, wie viele andere Mitbürger, 1989 aus dem Land vertrieben. Von Süleyman wurde heimlich ein Foto gemacht – wahrscheinlich das einzige Foto aus dem Arbeitslager in Belene aus den Jahren 1985-1986.

Übungen:

Findet Gheorghe Muruziuc im COURAGE-Register. Bereitet eine Präsentation über seine Geschichte vor oder schreibt seinen Blog aus den Tagen, als er den Fabrikschornstein erklomm.

Brief aus Rumänien. Versucht, euch die Persönlichkeit des Autors vorzustellen und erstellt sein/ihr Profil, seinen/ihren Lebenslauf, beschreibt sein/ihr Schicksal, seinen/ihren Familienstammbaum. Bereitet eine ppt mit Bildern vor, schreibt ein fiktives Interview mit dem Autor / der Autorin des Briefes, macht mit eurer Kamera Aufnahmen aus seinem/ihrem Alltag usw.

Seht euch den Film Chuck Norris und der Kommunismus an. Welche Art von Filmen haben die Menschen überwiegend gesehen, welche Genres? Wie haben diese Filme Amerika und den Westen dargestellt?

Zeigt eine Röntgenaufnahme. Woran erinnert euch das? Wie kann sie genutzt werden? Schaut euch eine Röntgenaufnahme von Knochen an.

Seht euch den Film Roentgenizdat an. Was sagt er über den Alltag im Stalinismus aus?

Betrachtet einen Ausschnitt aus dem Film Hot men, cold dictatorships. Meint ihr, dass sich die Situation seit den sozialistischen Zeiten geändert hat? Was glaubt ihr, wie Männer die Freiheit sehen – diejenigen, die während der Kádár-Zeit aufgewachsen sind, und die jungen schwulen Menschen von heute?

Schreibt ein Essay, das mit dem Satz beginnt: Was, wenn ich mich vor der Gesellschaft verstecken müsste, weil…

Welche Art von nationalen und internationalen Schwulenrechtsbewegungen kennt ihr? Prüft im COURAGE-Register.

Findet das heimliche Foto von Süleyman im COURAGE-Register.

 

Richtig oder falsch? Findet die Antworten im COURAGE-Register. Wenn die Aussage falsch ist, findet die richtigen Lösungen.

Le Cabaret Travesti arbeitete in der Sowjetunion.

Homeros-Lambda war die erste offizielle Schwulenrechtsorganisation in Ungarn, registriert im Jahr 1987, gegründet von Dr. Lajos Romsauer und Péter Ambrus.

Der Porzellanmaler Embiya Cavus wurde ähnlich wie Süleyman in das Zwangsarbeitslager Belene deportiert.